Kurzdefinition:
Unter Klassismus wird die Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen auf der Grundlage ihrer Herkunft oder ihrer sozioökonomischen Stellung innerhalb einer Gesellschaft verstanden. Auch wenn diese über die Kategorien Armut, soziale Ungleichheit, Verteilungsungerechtigkeit und habituelle Klassenzugehörigkeit ausdefinierte Variante der Diskriminierung erst in den letzten Jahren verstärkt ins Zentrum gesellschaftlicher Debatten rückte, sind diese Ausschlussprozesse in allen Epochen der Menschheitsgeschichte nachweisbar. Von Klassismus sind jene Menschen betroffen, die aufgrund von strukturellen und institutionellen Hürden mit knappen ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen haushalten müssen. Hierzu gehören beispielsweise Mitglieder der Arbeiter*innenklasse, Arbeits- und Erwerbslose, Transferleistungsbezieher*innen, Bildungsbenachteiligte, Obdachlose und von Altersarmut betroffene Senior*innen. Mit Klassismus gehen stets neoliberale Selbstverwirklichungserzählungen (Jeder ist seines Glückes Schmied) sowie ein bürgerliches Verlangen nach Distinktion, Statussymbolen und Differenzerzeugung einher.
Zitat:
„Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft und Klassenzugehörigkeit passiert ständig, und nicht nur in Form von Vorurteilen gegenüber Erwerbslosen. Klassismus durchzieht unser ganzes Leben: Es beginnt schon vor der Geburt und reicht bis über den Tod hinaus. Klassismus zeigt sich auf dem Wohnungsmarkt und äußert sich bei Fragen der Gesundheit. Klassismus lädt Menschen aus dem Kulturbereich aus und prägt politische Debatten, zum Beispiel wenn diese »übersehen«, dass vielen Familien der Platz fehlt, um Kindern beim coronabedingten Homeschooling ein eigenes Arbeitszimmer zur Verfügung zu stellen. Es ist an der Schule zu finden, wenn Mitschüler:innen Vornamen wie Kevin oder Chantal lustig finden oder Lehrkräfte gegenüber Kindern mit einem solchen Namen Vorurteile hegen. Klassismus liegt auch in unserer Sprache. Begriffe wie »bildungsfern«, »sozial schwach«, »prollig« oder »einfache Leute« spiegeln wider, wie auf Menschen aus der Arbeiter:innen- oder Armutsklasse herabgeschaut wird. Mit Worten wie »arbeitsscheu« oder »asozial« wurden schon im Nationalsozialismus jene Menschen für minderwertig erklärt, die im Rahmen der sogenannten Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in Konzentrationslagern eingewiesen und systematisch ermordet wurden.“
Erläuterung:
Wenn im Fußball von den „Königlichen“ und den „Knappen“ (aka „Kumpel- und Malocherclub“) die Rede ist, offenbaren sich bereits recht deutlich symbolische, immaterielle und materielle Unterschiede, die über den reinen Fußballsport hinausgehen. Die Madrilenen spielen nahezu kontinuierlich in galaktischen Sphären. Schalke 04 dagegen ist beheimatet in Gelsenkirchen. Eine Stadt, in der Teile der Bevölkerung aufgrund des Strukturwandels im Ruhrgebiet von Arbeitslosigkeit, materieller Deprivation und prekären Lebenswirklichkeiten betroffen sind. Sowohl die sozialen und wirtschaftlichen Missstände als auch die territoriale Reputation der Stadt Gelsenkirchen manifestieren das über Jahrzehnte tradierte Image der Fans von Schalke 04.
In der Medien- und Populärkultur repräsentierte die von Peter Nottmeier gespielte Kunstfigur Herbert Schwakowiak das überzeichnete Zerrbild eines „typischen“ Fans des Kumpel- und Malocherclubs. Als „arbeitsloser Arbeitsloser“ mit einer Vorliebe für VoKuHila, Kampfhunde, Halskette, Trainingsanzug, Oberlippenbart, Mettigel, Mantateller und Flaschenbier vereint diese Kunstfigur, mit der die klassistischen Inhalte der Scripted-Reality-Shows persifliert werden, zahlreiche habituelle Stereotype und Klischees. Von diesen medial verbreiteten und fiktionalen Milieubildern bleiben die realen Fußballfans von Schalke 04 nicht unberührt. Versatzstücke aus dem skizzierten Fremdbild werden teilweise vereinnahmt und für die Konstruktion eines identitätsstiftenden Selbstbildes genutzt. Dies spiegelt sich beispielsweise im Fangesang wider: „Wir sind Schalker, asoziale Schalker. Wir schlafen unter Brücken oder in der Bahnhofsmission.“ Das Gros der Unterstützer*innen verfügt natürlich über finanzielle Ressourcen, um sich eine Eintrittskarte, Fanutensilien, eine Stadionwurst und Kaltgetränke zu leisten.
Folglich bedeutet Klassismus auch immer Abgrenzung, die durch klassenspezifische Statussymbole generiert wird. Als Distinktionsgewinner fühlte sich sicherlich auch der Vater eines ehemaligen Fußballprofis von Schalke 04, der sich im Jahr 2020 dazu berufen fühlte, während seiner Fahrt durch die Stadt der tausend Feuer ein Video zu drehen. Als stolzes Mitglied der finanzstarken Oberschicht prahlte dieser mit seinem italienischen Sportwagen, mit dem er durch die „verbotene Stadt“ zum Steuerberater fuhr. Dieses nachträglich viral gegangene Video war nicht nur als Botschaft an den so genannten „Pleite-Klub“ gedacht. Aus klassistischer Perspektive ist es nicht ganz unwichtig, dass dieses Video, das von einem luxuriösen und sorgenfreien Leben berichtet, gerade in Gelsenkirchen gedreht wurde. Hier sind Teile der Bevölkerung alltäglich mit dem Management von multiplen Knappheiten konfrontiert, was zu einer Benachteiligung von Lebenschancen führt, soziale Ausgrenzung nach sich zieht und Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern verwehrt.
Literatur:
Barankow, Maria & Baron, Christian (Hg.): Klasse und Kampf. Berlin 2021.
Chassé, Karl August: Diskriminierung von Armen und sozial Ausgegrenzten. In: Scherr, Albert et al. (Hg.): Handbuch Diskriminierung. Wiesbaden 2017, 479-497.
El-Mafaalani, Aladin et al. (Hg.): Auf die Adresse kommt es an... Segregierte Stadtteile als Problem- und Möglichkeitsräume begreifen. Weinheim 2015.
Kemper, Andreas & Weinbach, Heike: Klassismus. Eine Einführung. Münster 2009.
Mayr, Anna: Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht. Berlin 2020.
Seeck, Francis & Theißl, Brigitte (Hg.): Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt. Wien 2020.
Seeck, Francis: Solidarisch gegen Klassismus. Organisieren, intervenieren, umverteilen. Münster 2020.
Seeck, Francis: Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert. Zürich 2022.